Ein Dorf als Zeuge alpiner Passwanderungen
Bosco Gurin ist mit 1506 Meter über Meer das höchstgelegene Dorf des Kantons Tessin und befindet sich im hintersten Teil des Valle di Bosco, einem Seitental des Rovana. Als Walsergemeinde ist Bosco Gurin die einzige Gemeinde der italienischen Schweiz mit deutscher Sprache und Kultur. Der Dorfkern von Bosco Gurin ist im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz eingetragen und weist verschiedene alte Holzbauten auf. Als eine der ältesten Walsergemeinden der Schweiz spielt der Ort in der Geschichte des Walser Volkstums bis heute eine zentrale Rolle, wovon auch bereits ein 1936 eröffnetes Museum zur Walser Kultur zeugt.
Das Haupthaus des Museums ist ein ehemaliges, 1386 erbautes Doppelwohnhaus, das weitgehend original erhalten ist. Es ist damit eines der ältesten erhaltenen Bauernhäuser der Schweiz bzw. des ganzen Alpenraums. Die Pfarrkirche Jakobus und Christophorus wurde 1253 geweiht und diente in ihren Anfängen zugleich als Hospiz für Passwanderer. Der Bau hat im Laufe der Jahrhunderte mehrere Veränderungen erfahren. Im Archiv findet sich ein Eintrag über eine 1464 erfolgte Restaurierung und über dem Eingang ist die Jahreszahl 1581 eingraviert.
Noch vor der Jahrtausendwende überquerten landhungrige alemannische Bauernsiedler vom Berner Oberland her die Hochalpenkette und liessen sich am Oberlauf der Rhone im heutigen deutschsprachigen Wallis nieder. Nach vorangehenden ersten Aufbrüchen in verschiedene Richtungen setzten wohl spätestens im beginnenden 13. Jahrhundert die Weiterwanderungen über die Walliser Alpen hinüber in die Südtäler ein. Auf Wunsch der lombardischen Landesherren und der Locarneser Capitanei, die eine Söldnertruppe benötigten, liessen sich um 1240 aus dem Val Formazza stammende Walser in Bosco Gurin nieder. Sie wanderten aus dem Pomatt über die Guriner Furka ein. In der natürlichen Talmulde von Bosco fanden Walser den geeigneten Ort, wo sie ihr Dorf gründeten. 1244 pachteten sie von adligen Familien aus Locarno und von den Dorfgenossen von Losone die Alpweiden der Umgebung; später gingen diese in ihren Besitz über.
Das Wort Walser bedeutet ursprünglich Walliser und bezeichnet jene deutschsprachigen bergbäuerliche Siedler samt ihrer Nachkommenschaft, die im ausgehenden Hochmittelalter das Oberwallis verliessen, und im damals zu einem grossen Teil noch romanischsprachigen Alpenraum angesiedelt wurden. Bezeichnend für die Walser ist ihre Eigenart, sich stets in den höheren Gebieten der Alpen niederzulassen, ohne je ins Tal hinabzusteigen. Dadurch waren sie den Härten und den Gewalten des Hochgebirges ausgesetzt. Für ihre kolonisatorische Tätigkeit erhielten die grösseren Walserkolonien das mittelalterliche Kolonistenrecht. Es gewährte die freie Ammannwahl, die niedere Gerichtsbarkeit, Freizügigkeit und die freie Erbleihe zu unveränderlichem Zins. Die Walsersiedler hatten den Territorialherren im Gegenzug Kriegsdienste zu leisten.
Die kolonisatorische Leistung der Walser bestand in der Rodung, Besiedlung und Bewirtschaftung karger hoch gelegener, niederschlagsreicher Gebirgslagen. Dabei konzentrierten sich die Walser hauptsächlich auf die Viehwirtschaft. Für ihre Wirtschaftsweise war die Alpwirtschaft kennzeichnend, welche die Beschaffung grösserer Heuvorräte und Viehbestände ermöglichte. Als Säumer spielten die Walser eine wichtige Rolle in Passlandschaften. Die Walsersprache ist nach Zinsli das gemeinsame Walsererbe, das alle von den hochmittelalterlichen Auswanderern gegründeten alpinen Kolonien umschliesst und sich noch heute mit dem Mutterland an der Rhone verbindet. Die Walser haben eine altertümliche mehr auf dem Althochdeutschen als damals bereits weiterentwickelten Mittelhochdeutsch Mundart in ihre besiedelten Gebiete mitgetragen. Die geografische Abgeschiedenheit führte dazu, dass die Bewohner von Bosco Gurin die eigenständigen Lebensgewohnheiten und örtliche Traditionen wie auch ihre Sprache während all den Jahrhunderten bewahrt haben, sodass heute noch das “Ggurijnartitsch" im Alltag von den Dorfbewohnern gesprochen wird.
Bis zu Beginn des 20. Jh. lebte die Walserkolonie in Bosco Gurin beinahe isoliert. Die seltenen Kontakte mit der Aussenwelt fanden eher mit dem Val Formazza oder dem Wallis als mit der Talebene an der Maggia statt. Zwischen dem Pomatt und Bosco Gurin bestand ein besonders enges Vertrauensverhältnis. Man besucht die Märkte und die kleinen Feste, und die Jugend führte den Mädchen Geschenkte mit über den Berg. Erst mit dem Ende des ersten Weltkriegs und dem Aufkommen des Faschismus endete diese enge Beziehung den beiden Walsergemeinden aus Italien und der Schweiz.